Leseprobe – Vollgas

Werfen Sie einen ersten Blick in ‚Berlin City Blues‘. Hier geht es zu einem Auszug aus der Kurzgeschichte ‚Vollgas‘.

Vollgas – Auszug

Das musste sie sein. Alles passte. Der rote Mantel, die schwarzen Stiefel, die braunen Locken. Er sah sie nur von hinten, aber es konnte keinen Zweifel geben. Sie stand an der Bushaltestelle und wartete.
Florian trat noch stärker in die Pedale seines Rennrades. Ihre Silhouette wurde deutlicher. Er wollte schon ihren Namen rufen – da verdeckte ein haltender Bus die Sicht. Als er wieder losfuhr, war sie verschwunden. Er folgte dem Bus durch den dichten Verkehr. So schnell, dass sein Magen zu schmerzen begann. Plötzlich hörte er eine Stimme.
„Meine Damen und Herren, in Kürze werden wir auf dem Flughafen Berlin-Tegel landen. Bitte klappen Sie die Tische hoch und stellen sie ihren Sitz in die gerade Position.“
Florian öffnete die Augen. Er blickte auf eine männliche Halbglatze, die knapp über die Kopflehne ragte – die gewöhnliche Aussicht auf Businessflügen. Er hatte einen sauren Geschmack im Mund. Sollte er jetzt schon eine Tablette nehmen? Auf seiner Schweizer Automatikuhr war es 7.53 Uhr. Nein, er würde noch warten.

Nach der Landung kämpfte er sich durch die Menschenmassen am Terminal. Es war Montag, es war Sommer und es war heiß. Zu allem Überfluss hatte die Urlaubszeit begonnen. Genervte Eltern rannten ihren aufgedrehten Kindern hinterher, die kichernd durch die Beine wartender Großfamilien schlüpften. Antalya hatte Verspätung, während Mallorca am Boarden war. Die größte Herausforderung stellten die planlosen Studentenpärchen dar. Sie konnten jederzeit stehen bleiben (‚Wo müssen wir genau hin?‘) und mit ihren schrankgroßen Rucksäcken eine unüberwindbare Barriere bilden.
Florian ärgerte sich. Typisch für diese Stadt, dass sie noch auf den abgefuckten Flughafen Tegel angewiesen war. Not smart and not sexy. Berlin Brandenburg sollten sie am besten sofort sprengen.
Sein Smartphone klingelte, das Frankfurter Büro.
„Andrea mein Schatz, was kann ich für dich tun?“
„Florian, Michael war da. Ich soll dir sagen, dass er die Tabelle mit den Produktivitätskennzahlen sofort braucht. Du seist damit überfällig.“
„Der Verlag hält die aktuellen Umsatzzahlen zurück, die ich für die Kennzahlen benötige. Sobald ich die habe –“
„Er sagt, das sei dein Problem, nicht seins.“
„Alles klar.“

Florian schluckte seinen Ärger runter und legte auf. Vor einem halben Jahr hatte ihm die Consultingfirma das Projekt beim Berliner Mittagsspiegel übertragen. Er begann mit einem Team von vier Beratern, das stückweise verkleinert wurde, bis nur noch er übrig blieb. Sinkende Auflagen, geringe Erträge aus dem Onlinegeschäft – die Probleme waren typisch für die Verlagsbranche.
Als Unternehmensberater musste Florian das ‚Optimierungspotential‘ erkennen und im nächsten Schritt ein ‚Therapiekonzept‘ entwerfen. Es klang wie Psychotherapie, er fand es anfangs amüsant. Bis er eines Tages feststellte, dass ein Teil der entlassenen Mitarbeiter nach seinen Einsätzen tatsächlich beim Therapeuten landete.
„Schmeiß ein Viertel der Belegschaft raus und der Laden wird von alleine profitabel“. Das waren die einleitenden Worte eines Senior Consultant an seinem ersten Arbeitstag. „Und vergiss nie: Client First!“
Beim Mittagsspiegel wurden die Zahlen trotz der Entlassungen immer katastrophaler. Selbst Florians Therapiekonzept zeigte keine Wirkung. Paywall, mehr Bannerwerbung, Verzahnung von Print- und Online-Redaktion – alles vergebens.
So nahm der Druck stetig zu. Die Banken ließ es kalt, dass die gesamte Branche im Umbruch war. Sie übten Druck auf die Verlagseigentümer aus, diese auf den Geschäftsführer, dieser auf die Consultingfirma und diese schließlich auf Florian. Seit Wochen forderte Michael eine Trendwende. „Wenn sich herumspricht, dass wir es nicht geschafft haben, das Ruder beim Mittagsspiegel herumzureißen, ist unser Ruf am Arsch.“ Die Verkleinerung seines Teams war in diesem Zusammenhang nur als unverhohlene Androhung einer Kündigung zu verstehen.

Endlich erreichte er den Taxistand. Dass man für 6,50 Euro pro Stunde arbeitete, konnte er nicht nachvollziehen. Da war im Leben wohl einiges schief gelaufen. Aber auch seine Einkommenssituation relativierte sich angesichts einer 90-Stunden-Woche. Er dachte schon länger über eine Selbstständigkeit nach. Bei einem Tagessatz von zweitausend Euro müsste er auf einhundertzwanzig Manntage im Jahr kommen, um das derzeitige Gehaltsniveau zu erreichen. Ein ehemaliger Kollege hatte bereits im zweiten Jahr über fünfhunderttausend Euro verdient. Was für eine Aussicht.
Ein Taxifahrer stieg aus und verfrachtete sein Gepäck in den Kofferraum. Florian ließ sich mit der Laptoptasche auf den warmen Rücksitz fallen.
„Wohin soll’s gehen?“
„Friedrichstraße 121 – wenn Sie es in weniger als fünfzehn Minuten schaffen, zahle ich das Dreifache. Falls nicht, gibt’s nur die Hälfte.“
Der Taxifahrer fuhr los, ohne zu antworten.
„Kein Interesse?“
„Was denken Sie, wo Sie hier sind? Auf dem Basar? Oder im Wettbüro?“
Der moralisch-empörte Typ, dachte Florian. Gleich käme der Rausschmiss. Sein Kollege von letzter Woche hatte hingegen kein Halten gekannt und so ziemlich jede Verkehrsregel verletzt. Dummerweise wurde er an einer tiefroten Ampel geblitzt. Poor Guy. Florian ließ den Taxifahrer weiter zetern.
„In meinem Taxi wird normal gefahren und normal bezahlt, verstanden? Sie können sonst gerne aussteigen.“
„Ach kommen Sie. Das wird bestimmt spaßig! Und wenn es klappt, springt ordentlich was für Sie heraus.“
Plötzlich bremste der Wagen scharf und kam mit einem Quietschen zum Stehen. Florian nickte die Aktion unfreiwillig ab.
„Na, haben wir die endgültige Parkposition erreicht?“ Er grinste.
„Raus hier, aber sofort!“
Der Taxifahrer stemmte seine schwarzbehaarte Hand gegen den Beifahrersitz und starrte ihn an.
„Schon gut, schon gut. Normal fahren, normal bezahlen, einverstanden.“
Siegessicher blieb Florian sitzen. Der Mann konnte unmöglich eine lukrative Fahrt vom Flughafen in die Innenstadt abbrechen. Aber er fixierte ihn noch immer. Seine Augen hatten einen gelblichen Schimmer. Ob man ihn auf seine Cholesterin-Werte ansprechen sollte? Florian verwarf den Gedanken. Mit einem Brummen drehte sich der Taxifahrer schließlich um und fuhr weiter.
Florian klappte den Laptop auf und ging die Agenda für den Tag durch. Sie mussten ihm unbedingt aktuelle Zahlen geben. Wenn schon nicht Umsatzzahlen, dann zumindest Klickzahlen, die Aufschluss über die Online-Werbeeinnahmen gaben. ‚Bitte lass es gute Zahlen sein, bitte bitte!‘. Wie ein Spielsüchtiger sehnte er sich sein Glück herbei.